Rosa Lidia, 2010 hast du begonnen, für Brücke Le Pont zu arbeiten. Erinnerst du dich noch an deine erste Arbeitswoche?

Von den ersten Tagen an war es eine zukunftsweisende Erfahrung. Heutzutage sind Homeoffice und flexible Arbeitszeitmodelle normal. Aber damals war dies in Brasilien, geschweige denn in Piauí, noch keine Realität. Dennoch fand unser erstes Arbeitstreffen gleich per Skype statt. Mir wurde sofort klar, dass es sich nicht nur um eine bürokratisch-technische Beratungsfunktion handelte. Es ging darum, eine Brücke zwischen Brasilien und der Schweiz zu sein und den Organisationen hier zu helfen, sich institutionell zu etablieren. Dabei ging es nie nur um Zahlen und Indikatoren, sondern um Existenzen und neue Perspektiven.

Pandemie, Regierungswechsel, politische Unruhen: Die Folgejahren waren von Krisen geprägt.

Es gab tatsächlich viele Umwälzungen, die sich negativ auf die soziale Gerechtigkeit ausgewirkt haben. Gerade während der Covidpandemie mussten wir uns neu erfinden, haben unter diesen schwierigen Umständen sogar Nothilfe geleistet. Auch die Liberalisierung des Arbeitsrechts stellte uns vor Herausforderungen. Die Anzahl offener Stellen ist in der Folge gesunken, weshalb wir jungen Menschen dabei geholfen haben, selbständig zu werden. Auch haben wir Jugendliche in der Berufsbildung unterstützt, nachdem die Regierung die Gelder für öffentliche Bildung gekürzt hatte. Allgemein verfolgen wir die Trends in der Arbeitswelt sehr genau, um Jugendlichen die berufliche Eingliederung und ihr Einkommen zu verbessern.

Was waren aus deiner Sicht die wichtigsten Erfolge, die das Brasilien-Programm erzielte?

Da gibt es tatsächlich mehrere. Zunächst ermöglichte uns die geografische Konzentrierung auf einen der ärmsten Bundesstaaten Brasiliens viele Synergieeffekte. Auch die Ausbildung und Arbeitsmarktintegration von Tausenden jungen Menschen betrachte ich als grossen Erfolg, vor allem auch, weil wir uns auf die am stärksten Betroffenen fokussiert haben: arme Jugendliche und Frauen. Dies wissen wir vor allem, weil wir auch in der Auswertung der Projekte Fortschritte gemacht haben; ein weiterer Erfolg. Wir haben Zwangsmigration und moderne Sklaverei bekämpft, etwa durch die Formulierung öffentlicher Politiken und Gesetzen oder indem wir für Tausende Arbeiter*innen erfolgreich Entschädigungen wegen Ausbeutung eingeklagt haben.

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Rosa Lidia Morais (links) mit einer Projektteilnehmerin in Piauí. «Tausende Frauen sind in den vergangenen Jahren finanziell unabhängig geworden», sagt sie.


Brücke Le Pont zieht sich auf Ende 2024 aus Brasilien zurück. Was wird bleiben?

Sehr vieles. So hat Brücke Le Pont etwa die Gründung und rechtliche Anerkennung zahlreicher Partnerorganisationen ermöglicht, die nun Teil der öffentlichen Debatte sind und für ihre Rechte, insbesondere im Bereich der menschenwürdigen Arbeit, einstehen. Auch die Kultur des institutionellen Lernens hat sich in den Partnerorganisationen etabliert. Die Unterstützung von Projekten im Bereich der Berufsausbildung und der Verteidigung von Arbeitsrechten hat die Entwicklung und Konsolidierung zahlreicher landesweit anerkannter und preisgekrönter Methoden ermöglicht, welche die Organisationen auf ein neues Niveau heben. Ich könnte fortfahren, doch für mich steht fest: Obwohl die finanzielle Stabilität nicht gesichert ist, bin ich überzeugt, dass alle Partnerorganisationen ihre institutionelle Mission weiter erfüllen werden.

Viele Menschen in der Schweiz haben das Brasilien-Programm von Brücke Le Pont während Jahrzehnten unterstützt. Was möchtest du ihnen mitteilen?

Dankbarkeit. Ihr Beitrag wird auch in Zukunft in vielen Leben nachhallen. Ich überbringe die Stimmen der vielen Menschen, die aus der modernen Sklaverei gerettet wurden. Ich überbringe die Stimmen von Tausenden von Frauen, die finanziell unabhängig geworden sind, von jungen Menschen, die es jedes Jahr geschafft haben, den Teufelskreis der Armut für sich und ihre Familien zu durchbrechen. Ich überbringe die Stimmen der Partnerorganisationen, die sich weiterhin für die Anliegen von Brücke Le Pont einsetzen und von ihrer Solidarität inspiriert sind. Die Bevölkerung von Piauí wird Brücke Le Pont und ihren Unterstützer*innen ewig dankbar sein.

Das Gespräch führte Bruno Essig.